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Nihilismus

Der moderne Nihilismus ist ein Plagegeist und Gegenspieler des moralischen Realismus. Das Gesundheitswesen benötigt eine radikaler Form des Universalismus. Insbesondere bei der Überwindung kollektiver Identitäten in Berufsständen.
Last edited 197 days ago by Frank Stratmann
Um es gleich zu sagen. Der antike Nihilismus bot zu seiner Zeit die Einsicht, das Leben ist vergänglich. Dazu wurde fleißig philosophiert und das hat schon sehr viel mit den Fragen zu tun, was denn nun der Sinn des Lebens sei. Starb man früh, als Held oder auch nicht, schob man das gern auf die Götter. Daher das geflogene Wort, …
Wen die Götter lieben, rufen sie zu sich.
Als Nichtbetroffener schob man dem Leben einen nachträglichen Sinn unter. Auch dieses Leben muss ja einen Sinn gehabt haben. Auch wenn es früh endete. Für alle, die das Leben noch hatten, ging es irgendwie weiter und mit dem unterstellten Ruf der Götter war klar. Wer jung starb, der hatte seinen Sinn gefunden. Als Held war der Sinn offensichtlicher, gerade zu Kriegszeiten, wenn man für etwas gestorben war. Ansonsten blieb, das die Götter jemanden besonders in ihr Herz geschlossen hatten.
Der antike Nihilismus hatte also schon etwas mit dem Sinn des Lebens zu tun. Eine der zentralsten Fragen der Philosophie. Auf die Gefahr hin, jetzt schon viel vorweg zu nehmen. Es gibt keine Formel, die wir je finden könnten, die den Sinn des Lebens darlegen würde. Die meisten von uns wissen das. Dennoch steht die Frage im Raum.

Nihilismus heute

Es war Friedrich Nietzsche, dem wir die ersten Gedanken zum modernen Nihilismus zu verdanken haben. Diese Einsicht unterscheidet sich etwa in der Form von der Frage nach dem Sinn des Lebens, dass die meisten Menschen heute glauben, der Mensch sei eine Laune der Natur, etwas das rein zufällig im Universum in Erscheinung trat und zwar in der Form, dass sich aus einem materiellen Ganzen heraus etwas ergeben wollte, das jetzt der Mensch ist. Der moderne Nihilismus versucht sich also mithilfe des Vokabulars, dass der Mensch von sich aus hervorgebracht hat, zu beantworten, das eigentlich nichts ist. Dabei ahnen wir ja jeden Morgen, wenn wir wach werden, dass alles noch da ist und eigentlich klar ist, das nicht nichts ist. Es gibt Seiendes. Das möchte der moderne Nihilismus so nicht anerkennen.

Das Spielen mit der Farbe

Heute will man uns weiß machen, dass eine Farbe wie Gelb gar nicht existiert. Es heißt: Lediglich eine Verkettung von Umständen führte dazu, dass Wellen von Licht sich auf etwas einschwingen, dass wir physikalisch als Wellenlänge messen und das aufgrund einer evolutionär zufällig entstandenen Sensorik, die dem Menschen zu eigen ist, dafür sorgt, dass etwas in einem Gehirn ankommt, das wir dann als Gelb wahrnehmen. Man müsste im engeren Sinne von einem Gelb verhandeln sprechen. Das Kind bekommt den gelben Baustein präsentiert. Fortan weiß es, was gelb zu sein hat. Was das Kind, Du oder ich wirklich als gelb wahrnehmen bleibt dem anderen verborgen. Ein Irrtum, will man meinen.
Farben sind hier ein willkommenes Gedankenexperiment für Nihilisten, denn Gelb als Farbe lässt sich nicht wirklich in Eigenschaften ausdrücken. Goethe hielt seine Farbenlehre für sein persönlich wichtigstes Werk. So gern ich in dem Werk lese. Sätze wie dieser hier, wirken nicht sehr objektiv.
Gelb führt in ihrer höchsten Reinheit immer die Natur des Hellen mit sich und besitzt eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft.
Man kann das noch mit anderen Sinneswahrnehmungen durchspielen. Wer aus dem Fenster schaut, dem erscheint das Äußere in einer verzerrten Perspektive unvollständig, die von der Bedingung abhängt, dass ein menschliches Auge beteiligt ist. Von Hunden glaubt man zu wissen, dass sie über keine oder zumindest weniger Farben verfügen. Für einen Hund scheint das von Vorteil zu sein. Verschiedene Insekten orientieren sich mutmaßlich an ultraviolettem Licht. Nehmen wir den Geschmack. Der gehört angeblich nicht zum objektiven Spektrum dessen, was manche die Welt nennen möchten. Dabei lassen sich bereits Datenmodelle von Gerüchen erstellen, die der Mensch nicht wahrnimmt, jedoch ein im Gadget verbauter Sensor, der in risikobehafteten Umfelder wie einem Kraftwerk ein Gasleck anzeigen lassen kann, das der Mensch über seine Nase nicht aufspüren würde. Was also ist dann noch objektiv?
Und genau darum geht es. Um Objektivität, die sich der Subjektivität entzieht. Oder als Frage formuliert: »Unter welchen Bedingungen können wir die Dinge erkennen, wie sie wirklich sind?«
Plausibel scheint zu sein, dass man erkennbare Irrtümer aus dem Bild der Wirklichkeit abzieht und schon ist die Chance größer, das Wirkliche zu erkennen. Wenn wir also die Irrtümer des Sehens, des Schmeckens, des Riechens usw. abziehen, kommen wir der Wirklichkeit näher. So glaubt der moderne Nihilist. Der geht also davon aus, dass die Sonnenblume eigentlich farblos ist, die Trüffel weder ihren typischen Geruch entfalten, der von Hunden oder Wildschweinen aufgespürt werden kann und der Mond eigentlich auch nur deshalb da ist, weil es ein talentiertes Lebewesen gibt, das den Mond aus seiner Perspektive erkennen kann. Wölfe natürlich auch. Deshalb heulen sie, weiß man. Dabei sind sie nur nicht talentiert genug, hinter dem plötzlich auftauchenden Licht einen Trabanten zu erkennen. Der Mensch und Lebewesen und seine Talente und damit verbundenen Zugänglichkeiten zur Wirklichkeit nimmt der moderne Nihilismus raus und kommt so zu etwas, das man das naturwissenschaftliche Weltbild nennen könnte. Hinreichend ist Objektivität nur, wenn die Sinnanstrengungen des Menschen aus dem Bild verschwunden sind.

Die Welt ohne Zuschauer hat keine Moral

Objektivität, verstanden mit dem modernen Nihilismus ist dann eine Welt ohne Zuschauer, die derjenigen geschaffen haben will, der in der Regel ohne Anschauung nicht auskommt. Zur Anschauung gehört auch, sich als Menschen begegnen, was implizit etwas damit zu tun hat, was wir tun sollten. Zum Beispiel freundlich sein. Doch auch solche sozialen Normen gehören angeblich nicht zum objektiven Teil der Wirklichkeit, die den Menschen verbannt hat und deshalb nehmen moderne Nihilisten an, es gäbe in diesem Sinne keine Moral. Wo soll die auch sein, wenn der Mensch aus dem Bild gefallen ist?
Kommen wir zurück zu Nietzsche, der behauptete, Moral habe nur dann Sinn, wenn es um den Menschen gehe. Das Universum sei nicht böse und nicht gut, und überhaupt weder sei die Welt die Beste noch die Schlechteste aller Welten. Für Nietzsche war der moderne Nihilismus ein Ergebnis der Theologie, die mit einer transzendentalen Kraft hantiere, die man im Idealfall als Irrtum entlarven kann, weil gut und böse nur etwas ist, was für den Menschen selbst Sinn ergibt und wenn das eben alles fehlt, bleibt nur das Universum in seiner reinsten (objektiven) Form übrig. Voilà. Der moderne Nihilismus wurde bewiesen.
Jetzt gibt es nur ein Problem. Nietzsche selbst ist ein Mensch und er kann sich nicht einfach davon stehlen. Damit kommen wir zum moralischen Nihilismus, einem Plagegeist unserer Zeit. Hier ist man der Auffassung, dass es keine moralischen Prinzipien oder Werte gibt, die die Grundlage für moralisches Handeln bilden. Selbst wenn der Mensch hinzutrete, wissen man ja schließlich, dass das Universum von sich aus keine moralischen Werte kenne. Es wird argumentiert, dass wir unsere Handlungen aus anderen Gründen wählen sollten, anstatt sie auf normative moralische Prinzipien zu stützen. Moralischer Nihilismus kann auch die Annahme beinhalten, dass es keine moralischen Tatsachen gibt, die moralische Entscheidungen beeinflussen könnten. Alles sei reine Projektion des Menschen auf ein an sich wertfreies Universum.

Alles ist Realität

Was wir zuvor besprochen haben, ist an sich kaum mehr haltbar und die zeitgenössische Philosophie tendiert in großen Teilen, dem Antirealismus den Rücken zu kehren. Der wollte, um es noch einmal zusammenfassen, jede Objektivität negieren, die auf Subjektivität aufbaut.
Der neue Realismus stellt sich seit einiger Zeit verstärkt genau den Fragen, die der moderne Nihilismus gern losgeworden wäre. Aktuell kümmert man sich wieder darum, zu verstehen, zu beweisen, dass die Perspektive, die dem Menschen eigen ist, als Teil der Wirklichkeit erkannt werden darf.
Warum sollte etwa an den Tatsachen weniger real sein, die wir erkennen können, wenn wir aus dem Fenster schauen? Warum sollten Sonnenblumen nicht gelb sein? Kurzum: Trüffel riecht und das ist Teil der Wirklichkeit. Das Bild von Nietzsche ist falsch. Es reicht nicht, Gott aus dem Bild des Universums zu streichen und ein Bild anzuerkennen, das den Werturteilen eines modernen Nihilisten entspringt, das er damit doch zeichnet und einmal mehr selbst, subjektiv beweist, dass auch er ein Weltbild hat, das voll von Irrtümern ist, die er da auch nicht so schnell heraus bekommt.

Plädoyer für die Phänomenologie

Treiben wir es noch etwas weiter und kommen wir zurück zu den Sachen selbst. Warum muss ich mir eigentlich einen Kopf darüber machen und mir vom modernen Nihilismus einreden lassen, dass mir das Glas Wein eigentlich nicht schmeckt, weil es das ja gar nicht gibt, obwohl ich den Wein doch schmecke? Welchen Wert hat es, sich nicht den Dingen an sich zuzuwenden. Was hält uns ab, im Hier und Jetzt zu sein? Das gelingt sehr gut ohne die Gesamtphilosophie von Edmund Husserl zu durchdringen. Es geht schlicht und ergreifen darum, wie wir zur Welt kommen und damit nicht etwas allumfassendes Ganzes zu verstehen, das wir aller Erfahrung im Jetzt und jeder unmittelbaren Anschauung bevorzugen. Ein Schüler von Husserl war Martin Heidegger. Der bevorzugte schon nicht mehr das Hiersein, sondern das Dasein. Damit verknüpfte er vor rund 100 Jahren die Vorstellung, dass wir uns selbst erkennen wollen, wenn wir zu etwas großem Ganzen gehören und von dort auf uns schließen. Das Seiende im Ganzen ist Heideggers transzendentaler Umweg über das große Ganze, das man manchmal auch Metaphysik nennt, also das hinter oder über dem Physischen vermutete, in dem einige Dinge, die uns hier und jetzt bewegen, festgelegt sein könnten. Manche installieren dafür dann ein Wesen, das sie manchmal Gott nennen.

Der Umweg ist ein Umweg

Was den Gedanken von Martin Heidegger zu entlehnen ist, wäre die Empfehlung, die oben schon durchklingt. Der Mensch sollte sich nicht selbst bestimmen im Lichte einer Vorstellung, die den Menschen als rein energetisch der materiellen Welt entsprungenes Lebewesen objektiviert. Sprich, ausschließlich naturwissenschaftlich erklären wollen, warum wir da sind, um noch einmal an das Dasein von Heidegger zu erinnern. Es dürfte schon klar geworden sein, dass das andere Extrem ebenfalls nicht wahr sein kann; nämlich die Vorstellung, ein transzendentales Wesen habe uns auf der Erde abgesetzt, nachdem er sich etwas aus den Rippen geschnitten habe. Es gibt noch mehr Weltbilder und hier nähern wir uns bereits gefährlich dem eigentlich Geheimnis, das mit der Kritik am modernen Nihilismus gelüftet werden soll.
Anstatt, dass der moderne Mensch im Jetzt verweilt, läuft er den Umweg über ein großes Ganzes, in das er sich selbst einschreibt. Von dort aus muss einem die Welt sinnlos erscheinen. Denn Probleme, die wir täglich bewältigen müssen oder das Leiden, das der Buddhismus meint, finden sich dort im Universum, im Himmel oder in jeder anderen Form der Transzendenz nicht wieder, obwohl sie uns tatsächlich belasten im Hier und Jetzt. Wem dann die Dinge über den Kopf wachsen, der empfindet das Leben oft sinnlos. Wenn wir doch nur eine Laune der Natur sind und uns die Götter gerade auch nicht lieben, wo liegt dann der Sinn im Leben.
Neulich abends hörte ich auf einer offenen Bühne in meiner Region das Gedicht einer jungen Poetry Slammerin. Sie gab ihren Zeilen den Namen: Dem Sinn ein Leben geben und darauf möchte ich jetzt zu sprechen kommen.
Zuvor fasse ich noch einmal zusammen. Wer sich in die Transzendenz verabschiedet, verliert sich in dem, was uns der moderne Nihilismus anbietet. Es gibt Menschen, die bekommen Angst, wenn sie den Sternenhimmel betrachten. Die eigene Existenz erscheint schnell nichtig in Anbetracht der Dimensionen, die da oben ganz ohne den Menschen zu herrschen scheinen. Wer Gott noch sucht, findet ihn dort dann tatsächlich nicht mehr, aber eben auch nicht sich selbst.

Sinnlose Sinnlosigkeit

Bleiben wir noch einen Moment beim Sinn des Lebens. Ich frage mich, wie sich der Leser dieses Textes, diese Fragen beantworten würde. Ich gehe mal davon aus, dass sich das ganz ähnlich abspielt wie bei mir. Vielleicht bleibe ich als Autor der einzige Leser dieses Textes. Einen solchen Text zu schreiben macht für mich wesentlich Sinn, weil ich damit den modernen Nihilismus noch einmal besser verstehe und sollte ich ihn eines Tages aus den Augen verloren haben, hilft mir dieser Text dabei, die Gedanken darum zu erneuern. Es macht also Sinn für mich. Im allgemeinen macht es sicher keinen Sinn, weil es sich hierbei nicht um eine akademische Arbeit handelt, die darauf angelegt ist, den philosophischen Diskurs zu beeinflussen. Zumal vieles von dem, das ich hier mit eigenen Worten auslegen, aus einem Vortrag von Markus Gabriel stammt, dessen Aussagen für mich Sinne machen; für den Leser vielleicht nicht. Lange Rede kurzer Sinn. Wir stellen uns nicht die Frage, was den Sinn des Lebens im Allgemein ausmacht, sondern es hat immer mit uns selbst zu tun. Was ist mein Sinn. Warum bin ich hier? Und wenn wir die Frage nicht adäquat beantworten können, kümmern wir uns zunächst einmal um den Sinn des Universums, um uns von dort aus dann zu bestätigen, dass unser Leben eigentlich keinen Sinn ergibt.
Es ist ein Fehlschluss zu glauben, nur das sei real, was unter bestimmten Bedingungen objektiv beschrieben werden kann?

Solidarität als Aspekt der Überwindung

Ein wesentlicher Aspekt dem modernen Nihilismus politisch zu begegnen, also das oben Gesagte in ein gesellschaftlichen Kontext zu bringen, ist die Solidarität. Sie besagt, das unsere Selbstbestimmung aus individueller Perspektive sinnvoll eingebettet wird in einen über unser subjektives Empfinden hinausreichenden Zusammengang, in dem andere Lebewesen mit Sinn suchenden und Sinn stiftenden Eigenschaften gemeinsam wirken.
Denn, soweit darf man sich historisch vergewissern, liegt im Ergebnis, das wir als Solidarität erkennen, eine Errungenschaft, die nicht allein darauf beruht, dass die Menschen den Sinn ihres Lebens bei sich selbst finden. Als Menschen haben wir schon früh in der Savanne gelernt, was es bedeutet, sich kooperativ zu verhalten. Ich werde eines Tages an anderer Stelle darauf konkret eingehen, weil ich es für essenziellen Bestandteil meines eigenen Denkens halte, kooperativ zu sein.
Wir dürfen uns klar machen, dass unser Hier und Heute gesegnet ist mit einem Grad an Freiheit, der sich zu andere Zeit kaum so nachweisen lässt. Zwar unterstellen viele, der Urmensch sei noch einmal um ein Vielfaches freier gewesen. Das löst jedoch die Frage nach den Maßstäben aus. Zwar sind wir von vielerlei Zwängen umgeben, aber eben auch von Optionen, die der Urmensch nicht hatte. Letztlich soll mit diesem Hinweis auch nicht gesagt sein, das Ding mit der Freiheit sei bereits geklärt. Auch heute ist da noch viel Luft nach oben. Wichtig ist, dass wir verstehen, dass wir unser Maß an Freiheit der Solidarität in Gesellschaften zu verdanken haben. Darum wurde lange gestritten. Schon bevor wir hier waren und das dafür notwendige System bleibt fragil. Wir benötigen den Rahmen, der sich primär dadurch stabilisiert, dass wir uns gegenseitig unsere gelebte Freiheit versichern. Im Gespräch, in gemeinsamen Erfahrungen und im gesunden Streit darüber, was der künftig günstigere Weg ist, unsere gelebte Freiheit zu erhalten. Das war zur Hochzeit der Pandemie jedenfalls schwerer.

Der freie Wille

Da hast Du Recht. Diesen Satz haben wir alle schon einmal gehört und hoffentlich auch gesagt. Er steht wie kein zweiter für das zuletzt Gesagte, das die Funktion beschreiben sollte, wie nicht Umstände, sondern wir alle zusammenhängen. Diese Funktion ist das Recht. Unter Recht verstehen viele heute gern und ausschließlich das Handwerk der Jurisprudenz. Doch Recht bedeutet hier richtig. Jemand, der uns zum Recht und seinen Grundlinien einschlägige Überlegungen überlasen hat, war Hegel. Er beschreibt Recht so:
Der freie Wille, der den freien Willen will.
Wenn ich will, dass die anderen frei sind, dann habe ich recht. Das Rechtssystem folgt dann diesem Anspruch. Wir alle fördern die Freiheit der anderen dadurch, dass wir unsere Freiheit leben. Nur eben nicht – wie heute oft falsch verstanden wird – in dem Sinne eines Auslebens individueller Freiheiten, was dazu führen muss, dass andere unfrei werden. Wenn wir unsere eigene gelebte Freiheit niemand anderem zuschreiben, verletzen wir Grenzen, weil wir die Gleichheit missachten, über die jeder andere gleichermaßen verfügt.

Das Jetzt trägt alle Last

Ich habe oben schon geschrieben, dem Sinn ein Leben geben. Wo genau spielt das, was dem Sinn sein Leben gibt? In unserem Alltag. Im Hier und nicht irgendwo anders, in keinem Dasein, sondern allein Hiersein. Dazu gehört die Einsicht, dass unser Hier gerade recht angenehm erscheint und frei. Anderswo auf der Welt liegen die Dinge anders und deshalb müssen wir davon ausgehen, dass sich das auch bei uns ändern kann, wenn wir das mit der Solidarität nicht mehr hinbekommen, wozu gerade Anlass besteht, sich zu sorgen. Es gibt ein Hier für Menschen in diesem Augenblick, die versuchen, ihren freien Willen zu leben, weil der den freien Willen will; und sie kommen dabei zu Tode.
Das Hier als kurze Episode aus eben gerade noch und schon einen Moment später ist der Ort in der Zeit und im Raum, wo der freie Wille gelebt werden kann, damit der Sinn ein Leben erfährt. Es ist eine psychotherapeutische Binse, sich im Hier und Jetzt die Aufmerksamkeit zu geben, was sie gerade tatsächlich haben. Wir kennen alle jene Menschen, die eine Sinnkrise durchleben in materiellen Überfluss, weil sie bemerkt haben, dass der Sinn gar nicht darin steckte, das ganze Zeug anzuhäufen.
Manchmal nennen wir das Achtsamkeit und es wird empfohlen, sie zu trainieren. Eckard Tolle hat ein sinnliches Buch über das »Jetzt« verfasst, in dem mein Lieblingskapitel die Überschrift »Hingabe« trägt.
Das Jetzt trägt alles Gewicht.
Alles, was jemand hat, liegt in der Situation in der man sich gerade befindet. Das Jetzt trägt das ganze Gewicht. Deshalb benötigen wir kein Universum, das uns gar nicht erklärt, was wir haben, wer wir sind und uns im schlimmsten anzunehmenden Fall sogar einreden will, dass unser Hiersein sinnlos ist. Da ist keine andere Gravitation als dieser Augenblick. Es braucht keine Transzendenz, die uns Antworten bieten könnte, warum ich gerade in dieser Situation stecke, einen Text wie diesen hier zu verfassen, von dem ich noch gar nicht genau weiß, was ich damit mache.
Dass wir glaube, stets unsere Situationen verlassen zu müssen, um nach Antworten zu suchen, die den Sinn des Lebens erklären, verdanken wir dem modernen Nihilismus, den wir eingangs besprochen haben. Dessen Überwindung liegt in der Anerkennung, dass die aktuelle Situation kein bedauernswerter Zustand darstellt. Damit soll nicht die Phrase bedient werden, es könne immer noch schlechter sein. Meinetwegen; das Leben ist Leiden, wie unser Buddhismus lehrt. Schon irren wir, wenn wir in der Tatsache, dass das Leben schmerzvoll ist, einen Makel erkennen wollten. Denn Schmerz ist unvermeidlich. Leiden nicht. Leiden entsteht aus Anhaftung. Zum Beispiel in Gestalt des modernen Nihilismus und damit verbundenen rein physikalistisches Weltbild. Wir müssen Lernen loszulassen. Das befreit uns nicht nur vom Leid, sondern auch von falschen Vorstellungen und transzendentalen Vorbildern, die uns einen Sinn versprechen, den wir nur selbst leben können.
Wenn wir unserer Erfahrung achtsame Aufmerksamkeit entgegenbringen, wirkt dies befreiend. Achtsamkeit schenkt uns Überblick, Ausgeglichenheit und Freiheit.
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